Gestern habe ich an einem Tag „Der Junge im gestreiften Pyjama“ durchgelesen. Ein Buch über die Judenverfolgung, das vielen bekannt sein dürfte und mittlerweile auch an vielen Schulen gelesen wird. Ich sag es gleich: Es hat mir überhaupt nicht gefallen. Doch darf man ein Holocaust Buch schlecht finden? Ich hab das Gefühl, dass viele bei diesem Thema fast jedes Buch gut finden, einfach des Themas wegen, da es ja ergreifende und tragische Schicksale sind die beschrieben werden. Doch muss ich ein Buch gut und wichtig finden, nur weil es ein bedeutendes Thema anspricht? Nein, sage ich, muss ich nicht und ich tu es auch nicht. Ich finde „Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist sogar ein sehr problematisches Buch. Warum, dass will ich näher erläutern:

Man muss sich Hass, Intoleranz und Rassismus entgegenstellen!

In Deutschland gibt es wohl kaum ein sensibleres Thema als den Holocaust. In den Schulen ist die Aufarbeitung des Themas ein zentraler Bestandteil des Geschichtsunterrichts, dem gut und gerne ein ganzes Halbjahr gewidmet wird. Und das ist gut und richtig so! Erst wenn man eine Ahnung davon bekommt welche Schrecken die NS-Zeit darstellte, kann man verstehen, warum wir als Gesellschaft und als einzelner Mensch alles dafür tun müssen nicht dieselben Fehler zu wiederholen. Gerade in Zeiten von Pegida, Verschwörungstheoretikern und rechten Aufmärschen ist es unerlässlich jungen Menschen deutlich zu vermitteln, warum es wichtig ist sich Hass, Rassismus und Intoleranz entschlossen entgegenzustellen. Wer aus der Vergangenheit nicht lernt, neigt dazu sie zu wiederholen.

Doch wie vermittelt man dieses schwierige Thema, ohne die Jugendlichen zu langweilen, sodass sie mit Holocaust nur nervigen Unterricht verbinden? Zeitzeugengespräche sind auf jeden Fall ein guter Ansatz. Denn wir versuchen zwar zu bereifen, aber das volle Ausmaß des Schreckens können nur diejenigen komplett verstehen, die ihn durchleben mussten. Doch der 2. Weltkrieg ist mittlerweile 70 Jahre her und Zeitzeugen gibt es nicht mehr viele. Eine weitere Möglichkeit ist die Vermittlung durch Literatur. Es gibt zahlreiche Werke von Zeitzeugen die NS-Zeit thematisieren, viele auch direkt für Jugendliche. Empfehlenswert sind da u.a.:

und für Ältere ab 16 ungefähr:

Der Junge im gestreiften Pyjama als Schulbuch?

Doch was ist nun mit dem Jungen im gestreiften Pyjama? Immerhin ist es an vielen Schulen Schullektüre. Mein erstes Problem mit dem Buch ist, dass ich nicht einordnen kann, ob es nun als Kinder-Jugendbuch oder als Erwachsenenbuch gedacht ist. Für ein Erwachsenenbuch ist die Sprache zu primitiv, selbst wenn es aus der Sicht eines Neunjährigen ist. Eine sehr simple Sprache, gepaart mit etlichen Wiederholungen der immer selben Phrasen (nach dem 5. mal habe ich aufgehört zu zählen wie oft Gretchen als hoffnungsloser Fall beschrieben wurde). Für ein Kinder/Jugendbuch sehe ich das Buch inhaltlich als zu problematisch.

Der Ansatz die Grauen eines KZ durch die Augen eines unschuldigen Kindes zu beschreiben ist ja nicht schlecht und sicherlich eine gute Methode den Stoff zu vermitteln ohne zu brutal oder blutig zu werden. Doch Bruno war mir selbst für einen Neunjährigen zu naiv. Selbst als er sieht wie Menschen erschossen und ermordet werden, wie sein Freund vor seinen Augen immer mehr abmagert, oder wie ein jüdischer Bediensteter beschimpft wird, begreift er nicht was vor sich geht. Im Gegenteil, das verdreckte Lager mit den vielen Menschen hält er für einen Abenteuerspielplatz. Ich erwarte ja nicht, dass er die volle Dimension begreift, aber mit neun Jahren hat man doch ein gewisses Verständnis von Tod, Leid oder Unrecht.

Des weiteren haben mich die vielen historischen Ungenauigkeiten gestört.

  • In Auschwitz gab es nicht wie beschrieben jede Menge Kinder im Lager, denn die SS selektierte die ankommenden Menschen und nur wer arbeitsfähig war, wurde nicht direkt in die Gaskammer geschickt. Gerade Auschwitz-Birkenau, was ja Handlungsort dieses Buches sein sollte, war ein Vernichtungslager. Hier ging es nur darum möglichst viele Juden, möglichst schnell zu töten. Kinder wurden, wenn nicht für Experimente gebraucht, so gut wie immer sofort vergast. Es dürfte also nur extrem wenige neunjährige Jungen im Lager längerfristig gewesen sein.
  • Hitlers Beziehung zu Eva Braun wurde bis zum Schluss vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und nur der allerengste Kreis wusste davon. Hitler wäre niemals mit ihr zusammen zum Essen zu einem „gewöhnlichen“ Kommandanten gegangen
  • Der Zaun, der die Lager umgab, war unter Hochspannung gesetzt. Selbst wenn unwahrscheinlicher Weise ein Loch da gewesen wäre, wäre Bruno gegrillt worden, bevor er drüben gewesen wäre.
  • Es wäre undenkbar gewesen, dass ein Häftling jeden Tag ein bis zwei Stunden an einem unbewachten Zaunabschnitt verschwindet und niemanden das auffällt. Neben den SS-Leuten gab es auch allerhand Häftlinge, die sich dadurch Privilegien sicherten, dass sie andere verpetzen. Es gab also tausende Augen dort, vor denen man sich in Acht nehmen hätte müssen.
  • Ebenfalls undenkbar, dass ein neunjähriger Sohn eines SS-Kommandanten noch nie was von Juden, dem Führer oder überhaupt der NS Ideologie gehört hat. Die Rassenlehre und Ideologie wurde schon in den untersten Klassen an den Schulen unterrichtet und die Kinder hochrangiger Parteimitglieder besuchten oft die sog. Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola). Aber selbst wenn Bruno nicht an einer solchen Schule war, hätte er trotzdem schon in Klasse 1 nationalsozialistisches Gedankengut vermittelt bekommen.
  • Der Kommandant des Lagers Auschwitz-Birkenau wohnte nicht in einem schicken Haus ganz allein am Rande des Lagers. In Auschwitz-Birkenau gab es eine SS Kaserne mit Kommandantur wo alle SS-Leute untergebracht waren (die einen besser als die anderen)
  • Offenbar soll es ja das Lager Auschwitz sein. Bruno sieht von seinem Fenster aus Holzhütten, daher müsste es das Vernichtungslager Birkenau sein, da im Stammlager Auschwitz Steinbaracken waren. Die Unterbringung der SS-Leute war aber ganz woanders, sodass er Birkenau nicht vom Fenster aus hätte sehen können.
  • Und noch ein Logikfehler: Wenn da ein Loch im Zaun war, wieso hat niemand ein Fluchtversuch gestartet? Warum blieb Schmuel die ganze Zeit im Lager, wo die Stelle doch unbewacht war

Über einige dieser Punkte kann man drüber wegsehen, aber manche sind schon gravierend. Insgesamt vermittelt das Buch eine stark geschönte Version des KZ. Der Tod wird tunlichst vermieden und ist nur zwischen den Zeilen zu finden. Und auch Begriffe wie Führer, Auschwitz oder Jude werden entweder verfälscht oder gemieden und umschrieben. Was erwachsene Leser als Ausdruck der Naivität und Unschuld von Bruno erkennen, können Jugendliche schnell als wahr betrachten. Wo Erwachsene zwischen den Zeilen lesen, nehmen Kinder das Beschriebene als gegeben wahr und das finde ich sehr gefährlich. Am schlimmsten finde in den letzten Satz im Buch:

„Natürlich geschah dies alles vor langer Zeit, und etwas Ähnliches könnte nie wieder passieren. Nicht in diesen Tagen, Nicht in diesem Zeitalter.”
(Der Junge im gestreiften Pyjama, John Boyne. Fischer Verlag S. 264)

Man könnte es natürlich als Sarkasmus interpretieren und die meisten erwachsenen Leser würden das wahrscheinlich auch tun. Auf Kinder und Jugendliche könnte dieses Ende hingegen eher wie das Ende einer gruseligen Gute-Nacht Geschichte wirken, mit der man den Kleinen versichern möchte, dass es sich um die bösen Monster aus der Geschichte keine Gedanken zu machen braucht. Soviel also zu der Moral von der Geschichte.

Aus diesem Gründen kann ich es absolut nicht verstehen, warum dieses Buch Schullektüre ist. Das Buch ist höchstens dann als solche Lektüre geeignet, wenn die Leser schon ausführliches Wissen über die NS-Zeit und den Holocaust besitzen und die Verharmlosungen als solche erkennen. Das ist bei Jugendlichen jedoch häufig nicht der Fall und daher sehe ich den Einsatz dieses Buches im Unterricht sehr kritisch.

Nun war das ein ewig langer Text von mir dazu und falls jemand bis zum Schluss liest, danke ich ihm oder ihr schon mal herzlich dafür. Ich weiß, dass ich mit meiner Meinung nicht nur auf Gegenliebe stoßen werde, hoffe aber dennoch, dass ihr meine Gedanken zumindest etwas nachvollziehen könnt.